Maria (Vision)

Maria stand im nachtverhüllten Tor
Das Kind im Arm und spähte angsterfüllt
Die Gasse auf und ab.
Der Schatten eines Giebels
Stieß messerscharf in eines Fensters Licht,
Das gelb das Pflaster färbte.
Aus der Häuser Tiefe Klang fremd ein Schritt.
Doch hoch am Firmament
Hing kalt und fern die Glorie der Nacht.
Das Kind noch enger an die Brust gepresst,
Eilte Maria durch die Gassen fort.
Wo sie vorüberfloh, erhellte
Ein seltsam Licht die nachbarlichen Stuben.
Die Kinder in den Wiegen lallten
Aus schönen Träumen,
Als nähm‘ ein Engel sie auf Flügeln mit.
Dann war die Stadt zu Ende und ein Teich
Inmitten einer Wiese rührte sie wie eine Träne an.
„Hat hier geweint“, sprach sie, „der Schmerz der Erde?“
Und in das Wasser bog sie ihre Hand
Zu netzen ihres Kindes blasse Stirne. ‑
Da klang Musik aus einem Wald zu ihr,
Der wie aus Glas in grauem Nebel stand
Und rief und lockte. Und sie lief,
Ganz nah zu hören nie gekannten Ton.
Da saß an einem Baum ein Geiger,
Ausgelöscht im eigenen Spiel,
Und eine rote Flamme lohte tief
Aus einer Mulde, nährend sich vom Moos.
„Bist du ein Mensch?“, frug ihn Maria bang.
„Bist du ein Fremdling auf der Erde hier wie ich?“
Der Geiger sah sie an und spielte fort und sah sie an,
Und spielte schöner noch. Maria aber sank in seinen Blick, Wie in ein Meer aus Gold. Sie rief das Kind
Bei seinem Namen, flehte um Mitleid
Vor dem Schmerz des Glücks.
Doch die Musik nahm ihre Seele hin!
Und als der Geiger sich erhob, folgte sie ihm
Und wusste, dass die Macht der Liebe
Sie fortgetrieben aus dem Tor der Stadt
Und dass zur Heimat jetzt die Erde ward …

23.5.1947

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