Der See und das Mädchen

Das Mädchen:

0, Mutter des Lichtes,
Warum mußt du scheiden,
0, gönne mir weiter
Das funkelnde Tanzen
Der goldenen Strahlen
Auf diesen wogenden Wellen des Sees. — —
Sie hört nicht mein Flehen,
Sie läßt sich umhüllen
Von seltsamem Schweigen
Und vom gespenstischen Dunkel der Nacht. —
Wie schwarz ist der Himmel
Und düsteres Brüten
Schlummert im ewigen Wechsel der Flut.

Der See:

O, komme mein Mädchen
Und lass‘ dich umfassen.
Ich will mit dir kosen,
Möcht‘ streicheln dein seidenes welliges Haar.

Das Mädchen:

Wie wird mir so bange
Und eisiges Grausen
Berürt meine Stirme mit knöcherner Hand.

Der See:

0, lass‘ mich nicht warten,
Vernimm doch mein Bitten,
Steig rasch in die Fluten
Und selig werd‘ ich deine schöne Gestalt Mit liebenden Armen umschmeicheln.
       
Das Mädchen:

Es zieht mich hinein
In das nächt’ge Gewässer,
Es lockt eine göttliche Stimme mich
Und Himmelsgewalten beflügeln den Schritt.

Der See:

Nun plätschert ihr Wellen
Und raunt eure Weisen,
Denn seht am Ufer das liebliche Bild. Mit göttlicher Anmut
Setzet die Holde
Den zierlichen Fuß in mein schimmerndes Reich. Jetzt gilt’s mit den Armen des Elementes
Ins brausende Wellenbett sie zu reissen.
       
Das Mädchen:

O, wie geschieht mir
Und welche Gefühle
Beleben mich neu!
Mit zärtlichem Kosen
Umspülen die Fluten
Die Glieder und schenken Erquickung mir.

Der See:

Du herrliches Wesen,
Du Braut meiner Wellen
Ganz mein Eigen
Sollst du nun werden
Und mit dem schäumenden Mund der Wogen Will deine rosigen Lippen ich küssen.

Das Mädchen:

O, weh ich fühle,
Das grausame Wüten,
Die ungezügelte Leidenschaft
Des stürmenden Wassers um mich brausen. —
Es zerrt an den Gliedern
Und reißt mich hinab
In ein unergründliches, gräßliches Grab.
O, hilf mir mein Gott ich versinke.

Der See:        

Ich spiel mit den Lebenden,
Schaukle die Toten
Und in den gewaltigen Wellenarmen
Sind beide sicher geborgen.

20. Juli 1955

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